Gastbeitrag von Denis Friedrich.
Am 31.10.2016 haben wir hier auf dem Blog und als Presseinformation die Meldung veröffentlicht, dass 6 von 10 Eltern schulpflichtiger Kinder (63 Prozent) ihrem Kind davon abraten würden, ein Start-up zu gründen. Wir freuen uns immer, wenn solche Nachrichten aufgegriffen werden und auch kritische Meinungen dazu kommen, so wie die von Denis Friedrich, verantwortlich für Analyse & Content Management bei Innovestment.
„Kind, Du wirst doch wohl kein Start-up gründen?“ – Bitkom unterschätzt die Potentiale in Deutschland. Eine Replik von Innovestment
Am 31. Oktober 2016 veröffentlichte der Digitalverband Bitkom die Ergebnisse der durch seine eigene Initiative ausgehende repräsentative Befragung unter 1.011 Eltern schulpflichtiger Kinder in Deutschland. Es wurde dort beispielsweise gefragt, ob die Eltern ihren Kindern die Gründung eines Start-ups empfehlen könnten. Bitkom wählte für die Pressemitteilung zur Umfrage einen aussagekräftigen Titel „Kind, Du wirst doch wohl kein Start-up gründen?“.
Mit diesem Beitrag möchten wir von der Firma Innovestment GmbH die Bitkom-Beurteilung der vorliegenden Umfragebefunde kommentieren. Innovestment vermittelt innovativen technologieorientierten Start-ups seit 2011 Risikokapital von Privatanlegern in Deutschland.
Position von Eltern in Deutschland
Unser Team ist von einer tendenziell negativen Bewertung der Umfrageergebnisse überrascht. Wir sind davon positiv überrascht, dass etwas mehr als ein Drittel der Eltern in Deutschland ihren Kindern NICHT abraten, ein Start-up-Projekt zu unternehmen.
Warum?
Eltern in Deutschland haben in der Regel keine Erfahrung auf diesem Gebiet. Im Allgemeinen raten die Eltern ihren Kindern, falls sie nach der Schule oder der Ausbildung eine Unternehmensgründung anstreben: Lerne erst einmal das Funktionieren von Unternehmen von innen kennen (Produktentwicklung, Qualität, Marktforschung, Finanzierungsmodelle für neue Produkte, Personalführung, Rechtsfragen) und suche Dir später eine Marktnische, in die Du eine Gründung hineinstellen willst. Oder aber sammle die für die Führung eines Unternehmens erforderlichen Erfahrungen.
Die im vorangegangenen Absatz beschriebene Haltung ist ganz generell die Position von Eltern in Deutschland – in Geschichte und Gegenwart. Wir möchten uns gegenseitig daran erinnern, dass die Tradition des freien Unternehmertums in einem Teil Deutschlands im vergangenen Jahrhundert für 40 Jahre unterbrochen wurde. Die besondere Situation der deutschen Teilung und die dadurch entstandenen Gegensätze wirken noch heute nach.
Deutschland ist nicht Silicon Valley
Der in der Bitkom-Pressemitteilung unternommene Versuch eines Vergleichs mit Silicon Valley hinkt. Entscheidend ist doch nicht die Anzahl der Gründungen, sondern ihre Nachhaltigkeit und Innovationstiefe. Das Gründungspotenzial ist in Deutschland wie in keinem anderen Land dieser Erde vorhanden – nicht zuletzt durch das System der dualen Berufsausbildung, das von Unternehmen auf eigene Rechnung durchgeführt wird (Kosten: rund 26 Mrd. Euro pro Jahr). Die jungen Menschen erleben in Unternehmen die durch den Mittelstand geprägte Unternehmenskultur und die Arbeitsweise von Betrieben in Forschung, Entwicklung, Produktion, Produktionskontrolle, Marktforschung und Vermarktung des Produkts sowie schließlich die Rückkoppelung vom Markt in die weitere Produktentwicklung. Der Lehrling in Deutschland ist selbst ein potenzieller Gründer!
Ausländische Beobachter und Analysten haben die Besonderheiten des deutschen Wirtschaftssystems erkannt, so der US-Wirtschaftsfachmann Matt Phillips, der 2015 einen Aufsatz mit der bezeichnenden Überschrift „Germany’s bizarre version of capitalism – bosses and workers actually cooperate – is winning“ veröffentlichte. Im Februar 2016 haben die Wirtschaftswissenschaftler aus den USA und Deutschland David Audretsch (Indiana /WHU) sowie Erik E. Lehmann (Augsburg) ein Buch veröffentlicht, das diese Besonderheiten ausführlicher aufgreift: „The seven secrets of Germany. Economic Resilience in an Era of Global Turbulence“.
Das Gewinnstreben der amerikanischen Unternehmer im Markt und des US-Staates im Rüstungs- und Weltraumbereich treibt die Innovation, die einen höheren Stellenwert als die Qualität des Produkts hat, das nach relativ kurzer Zeit durch ein neueres Produkt ersetzt werden sollte (Wegwerfwirtschaft). Die duale Ausbildung aus Theorie und Praxis muss sich in den USA noch durchsetzen – „on the job training“ ist die Regel. Start-ups und auch etablierte Unternehmen arbeiten in den USA in der Regel mit dem spekulativen Kapital. Die Anleger erwarten daher – verständlicherweise – kurzfristige und hohe Renditen. Ungeachtet der sozial betrachtet großen Defizite der Wirtschaft hat sie hohe Produktivität und generiert ein hohes Durchschnittseinkommen im Lande und fährt fort das zu tun.
Die fünfjährige Erfahrung von Innovestment mit Hunderten Gründern aus Deutschland zeigt: jedes Start-up sucht Stabilität und Zukunftsfähigkeit in seinen Beziehungen mit dem Kredit- oder Kapitalgeber. Das ist in den USA und in Silicon Valley grundsätzlich nicht zu erreichen. Von dem in der Bitkom-Pressemitteilung erwähnte Neidfaktor sollte also hierzulande keine Rede sein.
Die im Auftrag von Bitkom durchgeführte Befragung unter den Eltern in Deutschland liefert ungeachtet unserer Kritik an deren Bewertung einen wichtigen Beitrag zur Debatte über die Zukunftsfähigkeit unserer offenen Gesellschaft und ihrer Potentiale.
Den Projektinitiatoren und allen Mitwirkenden gebührt unser herzlicher Dank.
Denis Friedrich
Analyse & Content Management
Innovestment GmbH, https://www.innovestment.de/
Lehrbeauftragter an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder
für Fragen der Transformation in Osteuropa in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik
Kontakt: denis.friedrich@innovestment.de
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